Wollen Leute klug über mich reden, dann sagen sie: „Früher hätte man dich als Hexe verbrannt.“ Als ich Tonis Ölgemälde sah, habe ich zum ersten Mal ernsthaft darüber nachgedacht. War das wirklich ihr Bild von mir? So sieht meine Tochter unser Verhältnis? Und was genau zeigt dieses Bild?
Eine Frau in weißem Büßergewand. Die roten Haare ringeln sich wie Schlangen über Stirn und Schultern. Schwere Wolken tragen ein zauberisches Licht und vielleicht glühen versteckt am Boden schon die ersten Flammen des Scheiterhaufens. Und das Kind, ebenfalls im weißen Büßergewand, umklammert mich. Was tut es denn da? Es umarmt mich. Verehrt mich. Würgt mich. Versucht mich zu retten. Oder will es mit mir ausharren, sterben, wenn die Richter sagen: Die Hexe muss brennen. Aber zugleich ist meine Haltung so kalt, während ich doch nichts anderes sehe als mein Kind. Eine Mater Dolorosa mit Heiligenschein und Leichenbittermiene, ideal, unerreichbar, zum Tode verurteilt. Das bin ich für Toni?
Sie sah, dass ich erschüttert war. „Du hast ein Bild gemalt, wie andere Menschen uns sehen“, sagte ich. „Du hast den Neid gezeigt und die Wut, das Unverständnis und die Faszination, die unsere enge Bindung erzeugt.“ Aber Toni schüttelte den Kopf. „Nein, das ist mein Bild von dir.“
Weil Toni nie einen klassischen Vater gehabt hat, wollte ich für sie beides sein. Vielleicht liegt darin die Substanz der Hexe. Ich dachte an Toni, die Neugeborene, die viele Stunden stumm in ihrer Wiege liegen konnte und sich Dinge anschaute: eine feuerrote Dahlie, die ich in ihr Körbchen gelegt hatte. Sie verharrte in stabiler Seitenlage einen ganz Nachmittag lang, gab keinen Laut von sich, kein Anzeichen von Hunger oder Langeweile, die Augen mit Hingabe auf die Blume gerichtet. Damals ahnte ich schon, dass Toni einmal Bilder erschaffen und verschenken würde. Also konnte ich jetzt nichts anderes tun, als mein Bild anzunehmen.
Ob ich es verstehe? Nicht bis in die letzte Tiefe. Aber das ist eben der Scheiterhaufen des Gesehenwerdens. Und zugleich die einzige Form der Unsterblichkeit. Wohl und Wehe dessen, der den Pinsel nicht hat.
Barbara Mauersberg
Mein Vater war 49 Jahre alt als ich begann, Malerei zu studieren. „Du kannst dir zum Geburtstag ein Bild wünschen“, sagte ich ihm am Telefon, „was immer du willst.“ Er schickte mir ein Foto, und als ich es zum ersten Mal sah, war ich enttäuscht, fast ein Bisschen wütend. Blumen, Bäume, Berge, vor blauem Himmel. Und der Hobbyfotograf hatte sich noch nichteinmal die Mühe gemacht, die Datumsanzeige abzustellen. Ich erkannte die „Sagtaler Spitzen“, die das kleine Tal, in dem Mein Vater mit seiner Familie wohnt, vom Zillertal abgrenzen.
Ich musste einen Weg finden, das Bild so zu malen, dass es uns beiden gefallen würde. Mein Vater ist Tischler und hat die meisten Möbel in seinem Haus und auch dessen traditionelle Holzverziehrung selbst gebaut, Kästen für die Geranien, mit denen die Hausfrauen des Alpbachtals beharrlich alle Balkone schmücken. Ich habe ihn immer nur in den Ferien getroffen, aber dann unterhielten wir uns lange. Er interessiert sich für alles, besonders für Sport. Nur wenn wir über Kunst reden, lächelt er entschuldigend und sagt: „Na... des woaß ih nit.“
Also ging ich ans Werk und übertrug gewissenhaft jeden verschneiten Berghang, jeden Ast und jedes Blütenblatt in Öl auf Holz. Ich brauchte drei Monate. Ein Mitstudent sah mir eines Abends im Atelier über die Schulter und sagte voll Anerkennung: „Du hast so was Fanatisches bei der Arbeit.“ Natürlich ließ ich es mir nicht nehmen, auch das Datum mit zu malen.
Noch nie musste ich ein so langweiliges Bild so lange ansehen. Aber nach und nach verlor es seine Eindeutigkeit. Die Farbflächen waren erstaunlich präzise in rot, grün und blau aufgeteilt. Dann stellte ich fest, dass es diesen Tag, an dem das Bild aufgenommen wurde, nur alle vier Jahre gab. Aber wieso blühten im Februar die Geranien? Wenn doch noch Schnee die Alpen bedeckte? Das Bild war durch und durch rätselhaft. Auch dachte ich daran, dass ich die Sagtaler Spitzen, die als schwierig gelten, noch nie bestiegen hatte, während mein Vater jedes Jahr dort oben ist.
Ich brachte meinem Vater das Bild nach Tirol und überreichte es ihm zum Geburtstag, als wir in der Küche bei Kaffee und Krapfen saßen. Er freute sich sehr. Dass ich das Datum mitgemalt hatte, fand er gar nicht komisch. Er zeigte das Bild meiner Halbschwester, und die fand, es sähe aus wie ein Foto. Das kann in diesem Tal als das höchste Lob gelten. Ich erfuhr dann, dass seine Frau die Fotografin der Vorlage war. Er suchte für das Bild einen schönen alten Rahmen, aus hellem Holz mit echten Wurmlöchern, und hängte es in den Keller.
Es hat etwas gedauert, bis das Bild in meinem Arbeitszimmer angekommen ist. Zuvor hatte Toni es schon in der Universität der Künste präsentiert. Ich wurde tatsächlich erkannt, was bei modernen Porträts nicht immer zu erwarten ist. Eine Feuilletonistin aus der Redaktion der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung hatte sich die Ausstellung angesehen, zu ihrer Überraschung das Abbild ihres ehemaligen Chefredakteurs entdeckt und mich angerufen, ob ich von dem Bild gewusst hätte.
Dass meine Enkelin ein Porträt von mir gemalt hat, war mir schon bewusst, nicht aber, dass sie mir eine tote Muräne in die Hand gedrückt hat. Das war eine Anspielung auf den Politiker und Volkstribunen Lucius Licinius Crassus im alten Rom, der für seine Redekunst im Senat und vor Gericht berühmt geworden war. Hofmannsthal hat eine Szene aufgegriffen, in der Crassus von einem Senatskollegen verspottet wurde, weil er über den Tod seiner Lieblingsmuräne geweint hatte.
Nun, ein Volkstribun war ich nicht und wollte auch nie einer sein. Das ist ein anstrengender Beruf, der zu mancherlei Traurigkeit Anlass gäbe. Aber dass ich die Künstlerin an einen bedeutenden Redner des alten Roms und Lehrer Ciceros erinnert habe, freut mich schon.
Muränen sind nicht meine Lieblingstiere, und ihr Tod ginge mir nicht nahe. Aber wenn etwas, das uns lieb geworden ist, verloren geht, überfällt uns Melancholie und das Gefühl der Leere. Wir sinnen darüber nach, wie kurz das Leben ist und wie kurz die Spanne, die uns noch zur Verfügung steht. Und wir fragen uns, ob wir alle Möglichkeiten richtig genutzt hatten, die uns ein gütiges Geschick beschert hat.
Solche Empfindungen bewegen uns tief im Innern, und es fällt schwer, darüber zu sprechen. Da versagt die Redekunst. Solche Empfindungen können nur von Künstlern dargestellt werden. Aber es ist nicht ganz einfach, Besuchern zu erklären, was die tote Muräne in meiner Hand zu bedeuten hat.
Wolfgang Mauersberg
Es gibt Bilder, die dürfte es gar nicht geben. „Du sollst dir kein Bildnis machen“, so lautet das zweite der zehn Gebote.
Zum ersten Mal sah ich Reb Yoilish Krois auf der Straße. „Wer ist dieser Mann?“, fragte ich einen Freund. „Der hat ein Gesicht wie...“ Wir standen in Mea Shearim, dem ultraorthodoxesten Viertel Jerusalems. „Der? Der ist ein Anarchist!“, antwortete mein Begleiter und zog mich weiter. „Das Oberhaupt der Radikalen hier, er organisiert Demonstrationen gegen den Staat, und die Polizei ist ihm auf den Fersen.“
In Jerusalem war ich auf der Suche nach einem Bild des Heiligen. Die schwarz-weißen Ultraorthodoxen schienen mir dabei G‘‘T am nächsten zu sein. Ich zeichnete wochenlang Kaftane, Bärte und Schläfenlocken, und setzte dann auf einer kleinen Leinwand den Reb Yoilish Krois in eine bläuliche Wüstenlandschaft vor eine dunkle Pyramide. Sein flacher Hut, die weiße Kippa und der schwarze Mantel, so hatte ich es auf der Straße gesehen, zeigen, dass er nach den strengen Traditionen der Jerusalemer Charedim lebt und betet. Ich ließ ihn in Öl nach oben zeigen. „Eigentlich müsste er das Bild haben“, dachte ich mir, während ich malte.
Ich erzählte meinem Professor an der Jerusalemer Kunsthochschule von dem Plan, dem Rabbi sein Bild zu bringen. Er sah mich an wie einen hoffnungslosen Fall: „Die Orthodoxen? Die werden dich hochkant rauswerfen. Du als Frau, als Nichtjüdin, als Deutsche... Und dann, es lohnt sich doch nicht, sich mit denen zu befassen. Die haben doch keine Ahnung von... Ästhetik. Hast du mal gesehen, wie die wohnen? Alles aus Plastik! Überall Neonlampen! Überall diese kitschigen Gebetsbücher, mit Buchrücken in - Golddruck. Und dann noch ein Foto machen? Nein, das wird nichts.“ Ich sah ihn an, wie er da in Jeans und T-Shirt saß und den Kopf schüttelte. Er sollte Unrecht haben, dafür betete ich.
Ich musste meinen Mut zusammennehmen und setzte mich mit einem Koffer voll Bildern in den Wohnvierteln der Religiösen auf die Straße. Ein paar Hefte mit Zeichnungen verteilte ich an Kinder, vor allem aber erntete ich argwöhnische Blicke. Nach drei Stunden tauchten ein paar Leute auf und einer flüsterte mir zu, Yoilish schicke ihn, er wolle sein Bild sehen. Sie würden mich jetzt zu ihm bringen.
Es dämmerte schon, und Reb Yoilish stand auf dem Steinplatz vor seiner Haustür. Er musterte mich scharf, als wir näherkamen. Im Haus überreichte ich ihm sein Bildnis.
Er hielt es mit den Fingerspitzen vor sich, betrachtete sein Porträt und sagte dann annerkennend auf Yiddish zu mir, dass es „sheijn gemolt“ sei. Dann lud er mich zum Kaffee ein.
Ich blieb noch lange. Seine Frau, seine 14 Kinder und einige Verwandte, die zu Besuch kamen, betrachteten das Bild neugierig. Währenddessen öffnete Yoilish eine der unteren Türen des Bücherschranks, und ließ mich eine Geheimtreppe sehen, die in eine Druckwerkstatt führte. Dann wählte er Gebetsbücher aus dem Schrank hinter ihm und breitete sie auf dem Tisch aus. Das Bild lag zwischen uns auf dem Plastiktischtuch im Schein der Neonlampen. Wir sprachen über die Macht des Wortes, die größer ist als die der Tat. Er erzählte, wie seine Vorfahren den Holocaust überlebten und von Rabbinern alter Zeiten, die sich ihren Glauben sogar in der ägyptischen Knechtschaft bewahrten: Am Ende ist alles zum Guten, sogar die Pyramide zeigt zum Himmel. „Was hast du denn gesagt, als dich die Polizei verhaften wollte?“ fragte ich, und Reb Yoilish lächelte und sagte: „Alles – kommt von Oben.“
Ich wollte ein Bild von mir als Rabbiner - nur so zum Spaß. Aber es wurde wie ein Spiegel, ein Blick in ein Paralleluniversum, in dem ich weiß, wer ich bin, wer ich sein werde und dass es gut wird. Der junge Mann, der mir selbstsicher in die Augen schaut, kennt keinen Zweifel, und ich schaue zweifelnd zurück, ob ich jemals so sein kann.
Toni malte das Bild, als sie im Austauschjahr in Jerusalem war. Sie hat mir erzählt, dass sie es auch in Mea Shearim in ihrem Bilderkoffer ausgestellt hat. Die kleinen ultraorthodoxen Mädchen hätten mich mit leuchtenden, verliebten Augen angesehen. Christen, die sich das Bild anschauten, meinten, ich sähe wie Jesus aus.
Als ich selbst das Bild zum ersten Mal betrachtete, lief es mir eiskalt den Rücken herunter. Sich selbst so bekannt und fremd zugleich zu sehen, konnte ich kaum aushalten. Gleichzeitig wollte ich nicht, dass diese Wirkung sich abnutzt. Deshalb habe ich das Portrait in eine Schublade neben meinem Bett gelegt, und nur manchmal hole ich es heraus. Dann schaue ich mir in die Augen und frage mich, ob alles gut wird.
Robin Schäfer
Wollen Leute klug über mich reden, dann sagen sie: „Früher hätte man dich als Hexe verbrannt.“ Als ich Tonis Ölgemälde sah, habe ich zum ersten Mal ernsthaft darüber nachgedacht. War das wirklich ihr Bild von mir? So sieht meine Tochter unser Verhältnis? Und was genau zeigt dieses Bild?
Eine Frau in weißem Büßergewand. Die roten Haare ringeln sich wie Schlangen über Stirn und Schultern. Schwere Wolken tragen ein zauberisches Licht und vielleicht glühen versteckt am Boden schon die ersten Flammen des Scheiterhaufens. Und das Kind, ebenfalls im weißen Büßergewand, umklammert mich. Was tut es denn da? Es umarmt mich. Verehrt mich. Würgt mich. Versucht mich zu retten. Oder will es mit mir ausharren, sterben, wenn die Richter sagen: Die Hexe muss brennen. Aber zugleich ist meine Haltung so kalt, während ich doch nichts anderes sehe als mein Kind. Eine Mater Dolorosa mit Heiligenschein und Leichenbittermiene, ideal, unerreichbar, zum Tode verurteilt. Das bin ich für Toni?
Sie sah, dass ich erschüttert war. „Du hast ein Bild gemalt, wie andere Menschen uns sehen“, sagte ich. „Du hast den Neid gezeigt und die Wut, das Unverständnis und die Faszination, die unsere enge Bindung erzeugt.“ Aber Toni schüttelte den Kopf. „Nein, das ist mein Bild von dir.“
Weil Toni nie einen klassischen Vater gehabt hat, wollte ich für sie beides sein. Vielleicht liegt darin die Substanz der Hexe. Ich dachte an Toni, die Neugeborene, die viele Stunden stumm in ihrer Wiege liegen konnte und sich Dinge anschaute: eine feuerrote Dahlie, die ich in ihr Körbchen gelegt hatte. Sie verharrte in stabiler Seitenlage einen ganz Nachmittag lang, gab keinen Laut von sich, kein Anzeichen von Hunger oder Langeweile, die Augen mit Hingabe auf die Blume gerichtet. Damals ahnte ich schon, dass Toni einmal Bilder erschaffen und verschenken würde. Also konnte ich jetzt nichts anderes tun, als mein Bild anzunehmen.
Ob ich es verstehe? Nicht bis in die letzte Tiefe. Aber das ist eben der Scheiterhaufen des Gesehenwerdens. Und zugleich die einzige Form der Unsterblichkeit. Wohl und Wehe dessen, der den Pinsel nicht hat.
Barbara Mauersberg
Mein Vater war 49 Jahre alt als ich begann, Malerei zu studieren. „Du kannst dir zum Geburtstag ein Bild wünschen“, sagte ich ihm am Telefon, „was immer du willst.“ Er schickte mir ein Foto, und als ich es zum ersten Mal sah, war ich enttäuscht, fast ein Bisschen wütend. Blumen, Bäume, Berge, vor blauem Himmel. Und der Hobbyfotograf hatte sich noch nichteinmal die Mühe gemacht, die Datumsanzeige abzustellen. Ich erkannte die „Sagtaler Spitzen“, die das kleine Tal, in dem Mein Vater mit seiner Familie wohnt, vom Zillertal abgrenzen.
Ich musste einen Weg finden, das Bild so zu malen, dass es uns beiden gefallen würde. Mein Vater ist Tischler und hat die meisten Möbel in seinem Haus und auch dessen traditionelle Holzverziehrung selbst gebaut, Kästen für die Geranien, mit denen die Hausfrauen des Alpbachtals beharrlich alle Balkone schmücken. Ich habe ihn immer nur in den Ferien getroffen, aber dann unterhielten wir uns lange. Er interessiert sich für alles, besonders für Sport. Nur wenn wir über Kunst reden, lächelt er entschuldigend und sagt: „Na... des woaß ih nit.“
Also ging ich ans Werk und übertrug gewissenhaft jeden verschneiten Berghang, jeden Ast und jedes Blütenblatt in Öl auf Holz. Ich brauchte drei Monate. Ein Mitstudent sah mir eines Abends im Atelier über die Schulter und sagte voll Anerkennung: „Du hast so was Fanatisches bei der Arbeit.“ Natürlich ließ ich es mir nicht nehmen, auch das Datum mit zu malen.
Noch nie musste ich ein so langweiliges Bild so lange angesehen. Nach und nach verlor es seine Eindeutigkeit. Die Farbflächen erstaunlich präzise in rot, grün und blau aufgeteilt. Dann stellte ich fest, dass es diesen Tag, an dem das Bild aufgenommen wurde, nur alle vier Jahre gab. Aber wieso blühten im Februar die Geranien? Wenn doch noch Schnee die Alpen bedeckte? Das Bild war durch und durch rätselhaft. Auch dachte ich daran, dass ich die Sagtaler Spitzen, die als schwierig gelten, noch nie bestiegen hatte, während mein Vater jedes Jahr dort oben ist.
Ich brachte meinem Vater das Bild nach Tirol und überreichte es ihm zum Geburtstag, als wir in der Küche bei Kaffee und Krapfen saßen. Er freute sich sehr. Dass ich das Datum mitgemalt hatte, fand er gar nicht komisch. Er zeigte das Bild meiner Halbschwester, und die fand, es sähe aus wie ein Foto. Das kann in diesem Tal als das höchste Lob gelten. Ich erfuhr dann, dass seine Frau die Fotografin der Vorlage war. Er suchte für das Bild einen schönen alten Rahmen, aus hellem Holz mit echten Wurmlöchern, und hängte es in den Keller.
Es hat etwas gedauert, bis das Bild in meinem Arbeitszimmer angekommen ist. Zuvor hatte Toni es schon in der Universität der Künste präsentiert. Ich wurde tatsächlich erkannt, was bei modernen Porträts nicht immer zu erwarten ist. Eine Feuilletonistin aus der Redaktion der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung hatte sich die Ausstellung angesehen, zu ihrer Überraschung das Abbild ihres ehemaligen Chefredakteurs entdeckt und mich angerufen, ob ich von dem Bild gewusst hätte.
Dass meine Enkelin ein Porträt von mir gemalt hat, war mir schon bewusst, nicht aber, dass sie mir eine tote Muräne in die Hand gedrückt hat. Das war eine Anspielung auf den Politiker und Volkstribunen Lucius Licinius Crassus im alten Rom, der für seine Redekunst im Senat und vor Gericht berühmt geworden war. Hofmannsthal hat eine Szene aufgegriffen, in der Crassus von einem Senatskollegen verspottet wurde, weil er über den Tod seiner Lieblingsmuräne geweint hatte.
Nun, ein Volkstribun war ich nicht und wollte auch nie einer sein. Das ist ein anstrengender Beruf, der zu mancherlei Traurigkeit Anlass gäbe. Aber dass ich die Künstlerin an einen bedeutenden Redner des alten Roms und Lehrer Ciceros erinnert habe, freut mich schon.
Muränen sind nicht meine Lieblingstiere, und ihr Tod ginge mir nicht nahe. Aber wenn etwas, das uns lieb geworden ist, verloren geht, überfällt uns Melancholie und das Gefühl der Leere. Wir sinnen darüber nach, wie kurz das Leben ist und wie kurz die Spanne, die uns noch zur Verfügung steht. Und wir fragen uns, ob wir alle Möglichkeiten richtig genutzt hatten, die uns ein gütiges Geschick beschert hat.
Solche Empfindungen bewegen uns tief im Innern, und es fällt schwer, darüber zu sprechen. Da versagt die Redekunst. Solche Empfindungen können nur von Künstlern dargestellt werden. Aber es ist nicht ganz einfach, Besuchern zu erklären, was die tote Muräne in meiner Hand zu bedeuten hat.
Wolfgang Mauersberg
Es gibt Bilder, die dürfte es gar nicht geben. „Du sollst dir kein Bildnis machen“, so lautet das zweite der zehn Gebote.
Zum ersten Mal sah ich Reb Yoilish Krois auf der Straße. „Wer ist dieser Mann?“, fragte ich einen Freund. „Der hat ein Gesicht wie...“ Wir standen in Mea Shearim, dem ultraorthodoxesten Viertel Jerusalems. „Der? Der ist ein Anarchist!“, antwortete mein Begleiter und zog mich weiter. „Das Oberhaupt der Radikalen hier, er organisiert Demonstrationen gegen den Staat, und die Polizei ist ihm auf den Fersen.“
In Jerusalem war ich auf der Suche nach einem Bild des Heiligen. Die schwarz-weißen Ultraorthodoxen schienen mir dabei G‘‘T am nächsten zu sein. Ich zeichnete wochenlang Kaftane, Bärte und Schläfenlocken, und setzte dann auf einer kleinen Leinwand den Reb Yoilish Krois in eine bläuliche Wüstenlandschaft vor eine dunkle Pyramide. Sein flacher Hut, die weiße Kippa und der schwarze Mantel, so hatte ich es auf der Straße gesehen, zeigen, dass er nach den strengen Traditionen der Jerusalemer Charedim lebt und betet. Ich ließ ihn in Öl nach oben zeigen. „Eigentlich müsste er das Bild haben“, dachte ich mir, während ich malte.
Ich erzählte meinem Professor an der Jerusalemer Kunsthochschule von dem Plan, dem Rabbi sein Bild zu bringen. Er sah mich an wie einen hoffnungslosen Fall: „Die Orthodoxen? Die werden dich hochkant rauswerfen. Du als Frau, als Nichtjüdin, als Deutsche... Und dann, es lohnt sich doch nicht, sich mit denen zu befassen. Die haben doch keine Ahnung von... Ästhetik. Hast du mal gesehen, wie die wohnen? Alles aus Plastik! Überall Neonlampen! Überall diese kitschigen Gebetsbücher, mit Buchrücken in - Golddruck. Und dann noch ein Foto machen? Nein, das wird nichts.“ Ich sah ihn an, wie er da in Jeans und T-Shirt saß und den Kopf schüttelte. Er sollte Unrecht haben, dafür betete ich.
Ich musste meinen Mut zusammennehmen und setzte mich mit einem Koffer voll Bildern in den Wohnvierteln der Religiösen auf die Straße. Ein paar Hefte mit Zeichnungen verteilte ich an Kinder, vor allem aber erntete ich argwöhnische Blicke. Nach drei Stunden tauchten ein paar Leute auf und einer flüsterte mir zu, Yoilish schicke ihn, er wolle sein Bild sehen. Sie würden mich jetzt zu ihm bringen.
Es dämmerte schon, und Reb Yoilish stand auf dem Steinplatz vor seiner Haustür. Er musterte mich scharf, als wir näherkamen. Im Haus überreichte ich ihm sein Bildnis.
Er hielt es mit den Fingerspitzen vor sich, betrachtete sein Porträt und sagte dann annerkennend auf Yiddish zu mir, dass es „sheijn gemolt“ sei. Dann lud er mich zum Kaffee ein.
Ich blieb noch lange. Seine Frau, seine 14 Kinder und einige Verwandte, die zu Besuch kamen, betrachteten das Bild neugierig. Währenddessen öffnete Yoilish eine der unteren Türen des Bücherschranks, und ließ mich eine Geheimtreppe sehen, die in eine Druckwerkstatt führte. Dann wählte er Gebetsbücher aus dem Schrank hinter ihm und breitete sie auf dem Tisch aus. Das Bild lag zwischen uns auf dem Plastiktischtuch im Schein der Neonlampen. Wir sprachen über die Macht des Wortes, die größer ist als die der Tat. Er erzählte, wie seine Vorfahren den Holocaust überlebten und von Rabbinern alter Zeiten, die sich ihren Glauben sogar in der ägyptischen Knechtschaft bewahrten: Am Ende ist alles zum Guten, sogar die Pyramide zeigt zum Himmel. „Was hast du denn gesagt, als dich die Polizei verhaften wollte?“ fragte ich, und Reb Yoilish lächelte und sagte: „Alles – kommt von Oben.“
Ich wollte ein Bild von mir als Rabbiner - nur so zum Spaß. Aber es wurde wie ein Spiegel, ein Blick in ein Paralleluniversum, in dem ich weiß, wer ich bin, wer ich sein werde und dass es gut wird. Der junge Mann, der mir selbstsicher in die Augen schaut, kennt keinen Zweifel, und ich schaue zweifelnd zurück, ob ich jemals so sein kann.
Toni malte das Bild, als sie im Austauschjahr in Jerusalem war. Sie hat mir erzählt, dass sie es auch in Mea Shearim in ihrem Bilderkoffer ausgestellt hat. Die kleinen ultraorthodoxen Mädchen hätten mich mit leuchtenden, verliebten Augen angesehen. Christen, die sich das Bild anschauten, meinten, ich sähe wie Jesus aus.
Als ich selbst das Bild zum ersten Mal betrachtete, lief es mir eiskalt den Rücken herunter. Sich selbst so bekannt und fremd zugleich zu sehen, konnte ich kaum aushalten. Gleichzeitig wollte ich nicht, dass diese Wirkung sich abnutzt. Deshalb habe ich das Portrait in eine Schublade neben meinem Bett gelegt, und nur manchmal hole ich es heraus. Dann schaue ich mir in die Augen und frage mich, ob alles gut wird.
Robin Schäfer