Zum ersten Mal sah er General Alexander in der Zeitung. Vincent war gerade auf dem Weg zur Uni, saß in der U-Bahn und schlug die morgenfrische Ausgabe seines Probeabos auf. Da starrten ihn auf Seite drei die stahlblauen Augen eines Fotos an. Es war ein Artikel über den Chef der Überwachungsbehörde, verantwortlich für die Spionageaffäre, die seit einigen Tagen das ganze Land erregte. Vincent wusste schon ungefähr, worum es ging: Amerikas Spitzel belauschten die Welt, horteten ihre Daten und nisteten sich in fremden Computern ein. Er ließ seinen Blick zu den Augen des Fotos zurückkehren. In dem Artikel stand, dass sie ihn „Alexander den Großen“ nannten.
Ihn hatten in der Schule die anderen immer „Winz“ genannt, ohne es böse zu meinen. Dabei war er gar nicht so klein, eher mittelgroß. Er wünschte sich im Stillen, man möge „Vince“ zu ihm sagen, denn das klang verwegen. Davon war er stets weit entfernt gewesen. Wenn im Sport Mannschaften gebildet wurden, hieß es am Ende immer: „Ach, der Winz ist noch übrig.“ Das traf ihn jedes Mal tief, ohne dass er es auch nur zeigen konnte. Gut, er schoss nie ein Tor, aber er war ein verlässlicher Zuarbeiter. Seine Mutter merkte es abends trotzdem und sagte: „Kopf hoch, ist doch nur Sport“. Sein Vater guckte unwillig bei Seite. Das traf Vincent nocheinmal genauso hart. Doch es waren kleine Dramen. Winz-Dramen, immerzu, sein Leben lang.
In der Vorlesung, die für heute auf dem Programm stand, hörte Vincent nicht so richtig zu. Es war eine Einführung in die Medienwissenschaft, aber er war in Gedanken mit Alexander beschäftigt. Wäre das Leben nicht mit einem Schlag gerechtfertigt, wenn solche Augen auf ihm ruhten? Und so ging er, als das Klopfen auf den Tischen pflichtschuldig beendet war, mit ganz anderen Schritten als sonst in die Bibliothek, meldete sich mit seinem Account im System an und rief den Wikipedia-Artikel über den General auf. Keith B. Alexander war in Syracuse, New York, geboren. Die Liste seiner akademischen Abschlüsse und militärischen Errungenschaften war lang, Vincent fühlte sich eingeschüchtert. Der große Alexander hatte das „Warfare College“ besucht, das hatte einen weiten, leicht unheimlichen Widerhall. „Ein echter Soldat“, dachte Vincent. Außerdem hatte der General vier Töchter hervorgebracht, mit seiner Jugendliebe, die er gleich nach dem College geheiratet hatte. Das las Vincent auf einer anderen Seite.
Abends saß er allein in seinem Zimmer. Seine Mitbewohner waren feiern gegangen, ohne ihm Bescheid zu sagen. Aber heute war Vincent nicht bekümmert darum. Er klappte seinen Laptop auf, und dabei fiel sein Blick auf die kleine schwarze Linse über dem Bildschirm. „Da also auch“, dachte er. Die Nachforschungen des Tages hatten noch viele Fragen offen gelassen. Wo speicherten die ihr ganzes Material? Sie konnten ja nicht allen die gleiche Aufmerksamkeit schenken. Da saß wohl kaum ein Mitarbeiter der Behörde und guckte ihn jetzt gerade an. Wozu auch? Vincent fühlte sich durch und durch unbedeutend, nicht der Überwachung wert. Aber vielleicht lag genau hier das Problem. Er warf einen schnellen Blick durch die Ereignisse seines Lebens. Wenn einer von Alexanders Leuten das lesen, zusammenfassen und aufarbeiten würde, der müsste sich doch zu Tode langweilen. Es wäre doch besser für uns beide, wenn es anders wäre, dachte Vincent. Er musste auf Nummer sicher gehen: Was, wenn er nicht im Visier war? Wenn er auch hier übersehen wurde? Es war beschlossen, er würde tätig werden. An diesem Abend tanzte er vor der Linse seines Laptops. Und bevor er einschlief, dachte er an die Töchter des Generals.
Am nächsten Tag hatte Vincent viel zu tun. Er bestellte den Koran im Internet, erkundigte sich über Moscheen im Umkreis und kaufte sich ein Smartphone. Als er aus dem Laden trat, hatte er das Gefühl, sein Hinterkopf sei beleuchtet. Es war kein stechendes Auge, das über ihm schwebte, eher das undeutliche Gewicht der Beachtung. Dann fiel ihm die Akte ein, die sie dort drüben wohl über ihn anlegen würden. Bei jedem guten Buch musste der Anfang stimmen, und so schrieb er eine Version seines bisherigen Lebens, mit der er endlich einverstanden sein konnte. Beim Schreiben überkam ihn eine Welle der Großzügigkeit, die sich sogar auf seine Familie erstreckte. Seine Eltern, die in einem kleinen Dorf im Alpenvorland lebten, machte er zu heimlichen Pionieren des Bergsteigens. Ihre Liebe hatte begonnen, als sie bei der Erstbesteigung einer besonders gefährlichen Gratroute in der hohen Tatra in ein Unwetter gerieten und beinahe ums Leben gekommen wären. Er schrieb einen erklärenden Vospann, dass er sich in seinem Alter genötigt fühle, eine Bilanz zu ziehen, dann gab er den Text auf seinem Desktop zur Ausspähung frei.
Vincent wollte gründlich sein, doch nun musste er in die Zukunft denken. Wie machte man sich ein interessantes Leben? Sozusagen aus dem Stand? Drogen, die fielen ihm zuerst ein. Doch er verwarf den Gedanken. Das war nur illegal, ohne Ruhm zu versprechen. Seine Experimente mit Mädchen brachten ihn erst recht nicht weiter, obwohl seine neue Verfassung ihn ermächtige, hier immerhin einen Fuß in die Tür zu bekommen. Eine hatte er in der Bibliothek getroffen. Sie hatte an der Ausleihe ihren Schließfachschlüssel verloren, er hatte ihn aufgehoben und dann gewartet, bis sie vor den Schränken den Verlust bemerkte und in Verzweiflung geriet. Dann war er in Erscheinung getreten und freute sich heimlich, dass sein Smartphone ihre Dankesworte aufzeichnen konnte. Sie gingen noch einen Kaffee trinken, ein paar Tage später blieb sie über Nacht. Er hatte seinen Laptop so aufgestellt, dass der einen guten Blickwinkel einnahm, und bedachte bei allem was er tat, es möge sehr schön anzusehen sein.
Irgendwas musste ihr jedoch missfallen haben, denn sie kam nicht zurück. War es das Bild von Keith B. Alexander, das er sich groß ausgedruckt und in seinem Zimmer aufgehängt hatte? Möglicherweise waren ihr auch seine Nachrichten unheimlich gewesen, denn mit der Gewissheit, einige Mitleser zu haben, schrieb er natürlich viel toller als jemals. Einmal versuchte er auch, einen Brief an Alexander persönlich zu schreiben. Er rang mit den Worten, er sah zu dem Bild und versuchte, seine Zuneigung zu formulieren, ein klares Anliegen zu fassen. Nur einen letzten Satz brachte er zu Papier: „Bitte, lassen Sie mich nicht allein.“ Er schickte den Brief nicht ab. Alexander würde wissen, was ihm auf dem Herzen lag. Vincent war jetzt reif, in die weite Welt aufzubrechen.
Colonel Robert Malachy saß an seinem Schreibtisch in Fort Meade. Es war ein sonniger Tag, aber er fühlte eine gewisse Schwere in seinen Organen. Es stand nicht zum Besten um den ganzen Betrieb. Er sah zum Bild des Chefs, das neben einer amerikanischen Flagge hinter ihm hing. Seine Finger streichelten das Krokodilleder, mit dem seine Schreibtischgarnitur verkleidet war, und er seufzte. Es klopfte an der Tür. Er befahl, einzutreten, und ein Officer brachte gleich seinen ganzen Körper ins Zimmer. Malachy hatte ihn erwartet, die Fälle aus Deutschland mussten besprochen werden. Der Untergebene trug einen dicken Stapel Akten unter dem Arm und berichtete über die ersten fünf Individuen. Drei davon sollte man weiter verfolgen, zwei fallenlassen, unbedenklich, entschied Malachy. Dan kam die Reihe an seinen Lieblingkandidaten. „Ja, was macht denn unser kleiner Vince“, sagte er, und lehnte sich ein bisschen zurück, in genießender Erwartung der folgenden Einzelheiten. „Nun… wir haben ihn verloren“, sagte der Officer vor ihm. „WAS? Wie konnte denn das passieren?“ Malachy sah in einem Brennglas ihre Mühen des letzten halben Jahres mit diesem Kandidaten. Wie sie immer wieder gerätselt hatten: Was will der Kerl eigentlich? Sie hatten ihn gefunden, weil er willentlich in die Nähe fundamentalistischer Gruppen trat. Offenbar besuchte er Moscheen, ließ sich einen Bart wachsen und führte verworrene, begeisterte Zwiegespräche. Die führte er aber ständig, mit Leuten in der U-Bahn und im Supermarkt, die deutschen Übersetzer waren ganz schön ins Schwitzen geraten. Dann war da dieser Text über seine Vergangenheit, der frei erfunden sein musste, wie sich nach kleinteiliger Recherche herausstellte. Am meisten hatte Malachy verwundert, dass Vincent beharrlich die Berichterstattung über seine Behörde verfolgte, als er anscheindend den Hasspredigern schon den Rücken gekehrt hatte. „Vielleicht interessiert er sich in Wirklichkeit nur für uns“, hatte er damals im Scherz zu einem Vorgesetzten gesagt. Und jetzt war dieser Junge also verschwunden? Der Officer sah noch immer leicht verlegen aus. „Nunja, er ist verreist. Sein Smartphone, seinen Laptop, alles hat er zu Hause gelassen. Er ist jetzt in… Kashmir. Am Fuß des Himalajahs unterwegs.“ „Heiliger Himmel, was will er denn da!? Schafe hüten?“ „Wir wissen es nicht genau. Aber wir haben schon einen unserer Leute nachgeschickt. Serafine Right, sie hat etwa sein Alter, eine unserer Besten. Sie wird schon herausfinden, was der im Schilde führt.“
Das hoffte Malachy sehr. Er musste dem Chef Bericht erstatten, und in schweren Zeiten durfte man nicht versagen. Diesen Vincent, den würde man im Auge behalten.
(2014)
Zum ersten Mal sah er General Alexander in der Zeitung. Vincent war gerade auf dem Weg zur Uni, saß in der U-Bahn und schlug die morgenfrische Ausgabe seines Probeabos auf. Da starrten ihn auf Seite drei die stahlblauen Augen eines Fotos an. Es war ein Artikel über den Chef der Überwachungsbehörde, verantwortlich für die Spionageaffäre, die seit einigen Tagen das ganze Land erregte. Vincent wusste schon ungefähr, worum es ging: Amerikas Spitzel belauschten die Welt, horteten ihre Daten und nisteten sich in fremden Computern ein. Er ließ seinen Blick zu den Augen des Fotos zurückkehren. In dem Artikel stand, dass sie ihn „Alexander den Großen“ nannten.
Ihn hatten in der Schule die anderen immer „Winz“ genannt, ohne es böse zu meinen. Dabei war er gar nicht so klein, eher mittelgroß. Er wünschte sich im Stillen, man möge „Vince“ zu ihm sagen, denn das klang verwegen. Davon war er stets weit entfernt gewesen. Wenn im Sport Mannschaften gebildet wurden, hieß es am Ende immer: „Ach, der Winz ist noch übrig.“ Das traf ihn jedes Mal tief, ohne dass er es auch nur zeigen konnte. Gut, er schoss nie ein Tor, aber er war ein verlässlicher Zuarbeiter. Seine Mutter merkte es abends trotzdem und sagte: „Kopf hoch, ist doch nur Sport“. Sein Vater guckte unwillig bei Seite. Das traf Vincent nocheinmal genauso hart. Doch es waren kleine Dramen. Winz-Dramen, immerzu, sein Leben lang.
In der Vorlesung, die für heute auf dem Programm stand, hörte Vincent nicht so richtig zu. Es war eine Einführung in die Medienwissenschaft, aber er war in Gedanken mit Alexander beschäftigt. Wäre das Leben nicht mit einem Schlag gerechtfertigt, wenn solche Augen auf ihm ruhten? Und so ging er, als das Klopfen auf den Tischen pflichtschuldig beendet war, mit ganz anderen Schritten als sonst in die Bibliothek, meldete sich mit seinem Account im System an und rief den Wikipedia-Artikel über den General auf. Keith B. Alexander war in Syracuse, New York, geboren. Die Liste seiner akademischen Abschlüsse und militärischen Errungenschaften war lang, Vincent fühlte sich eingeschüchtert. Der große Alexander hatte das „Warfare College“ besucht, das hatte einen weiten, leicht unheimlichen Widerhall. „Ein echter Soldat“, dachte Vincent. Außerdem hatte der General vier Töchter hervorgebracht, mit seiner Jugendliebe, die er gleich nach dem College geheiratet hatte. Das las Vincent auf einer anderen Seite.
Abends saß er allein in seinem Zimmer. Seine Mitbewohner waren feiern gegangen, ohne ihm Bescheid zu sagen. Aber heute war Vincent nicht bekümmert darum. Er klappte seinen Laptop auf, und dabei fiel sein Blick auf die kleine schwarze Linse über dem Bildschirm. „Da also auch“, dachte er. Die Nachforschungen des Tages hatten noch viele Fragen offen gelassen. Wo speicherten die ihr ganzes Material? Sie konnten ja nicht allen die gleiche Aufmerksamkeit schenken. Da saß wohl kaum ein Mitarbeiter der Behörde und guckte ihn jetzt gerade an. Wozu auch? Vincent fühlte sich durch und durch unbedeutend, nicht der Überwachung wert. Aber vielleicht lag genau hier das Problem. Er warf einen schnellen Blick durch die Ereignisse seines Lebens. Wenn einer von Alexanders Leuten das lesen, zusammenfassen und aufarbeiten würde, der müsste sich doch zu Tode langweilen. Es wäre doch besser für uns beide, wenn es anders wäre, dachte Vincent. Er musste auf Nummer sicher gehen: Was, wenn er nicht im Visier war? Wenn er auch hier übersehen wurde? Es war beschlossen, er würde tätig werden. An diesem Abend tanzte er vor der Linse seines Laptops. Und bevor er einschlief, dachte er an die Töchter des Generals.
Am nächsten Tag hatte Vincent viel zu tun. Er bestellte den Koran im Internet, erkundigte sich über Moscheen im Umkreis und kaufte sich ein Smartphone. Als er aus dem Laden trat, hatte er das Gefühl, sein Hinterkopf sei beleuchtet. Es war kein stechendes Auge, das über ihm schwebte, eher das undeutliche Gewicht der Beachtung. Dann fiel ihm die Akte ein, die sie dort drüben wohl über ihn anlegen würden. Bei jedem guten Buch musste der Anfang stimmen, und so schrieb er eine Version seines bisherigen Lebens, mit der er endlich einverstanden sein konnte. Beim Schreiben überkam ihn eine Welle der Großzügigkeit, die sich sogar auf seine Familie erstreckte. Seine Eltern, die in einem kleinen Dorf im Alpenvorland lebten, machte er zu heimlichen Pionieren des Bergsteigens. Ihre Liebe hatte begonnen, als sie bei der Erstbesteigung einer besonders gefährlichen Gratroute in der hohen Tatra in ein Unwetter gerieten und beinahe ums Leben gekommen wären. Er schrieb einen erklärenden Vospann, dass er sich in seinem Alter genötigt fühle, eine Bilanz zu ziehen, dann gab er den Text auf seinem Desktop zur Ausspähung frei.
Vincent wollte gründlich sein, doch nun musste er in die Zukunft denken. Wie machte man sich ein interessantes Leben? Sozusagen aus dem Stand? Drogen, die fielen ihm zuerst ein. Doch er verwarf den Gedanken. Das war nur illegal, ohne Ruhm zu versprechen. Seine Experimente mit Mädchen brachten ihn erst recht nicht weiter, obwohl seine neue Verfassung ihn ermächtige, hier immerhin einen Fuß in die Tür zu bekommen. Eine hatte er in der Bibliothek getroffen. Sie hatte an der Ausleihe ihren Schließfachschlüssel verloren, er hatte ihn aufgehoben und dann gewartet, bis sie vor den Schränken den Verlust bemerkte und in Verzweiflung geriet. Dann war er in Erscheinung getreten und freute sich heimlich, dass sein Smartphone ihre Dankesworte aufzeichnen konnte. Sie gingen noch einen Kaffee trinken, ein paar Tage später blieb sie über Nacht. Er hatte seinen Laptop so aufgestellt, dass der einen guten Blickwinkel einnahm, und bedachte bei allem was er tat, es möge sehr schön anzusehen sein.
Irgendwas musste ihr jedoch missfallen haben, denn sie kam nicht zurück. War es das Bild von Keith B. Alexander, das er sich groß ausgedruckt und in seinem Zimmer aufgehängt hatte? Möglicherweise waren ihr auch seine Nachrichten unheimlich gewesen, denn mit der Gewissheit, einige Mitleser zu haben, schrieb er natürlich viel toller als jemals. Einmal versuchte er auch, einen Brief an Alexander persönlich zu schreiben. Er rang mit den Worten, er sah zu dem Bild und versuchte, seine Zuneigung zu formulieren, ein klares Anliegen zu fassen. Nur einen letzten Satz brachte er zu Papier: „Bitte, lassen Sie mich nicht allein.“ Er schickte den Brief nicht ab. Alexander würde wissen, was ihm auf dem Herzen lag. Vincent war jetzt reif, in die weite Welt aufzubrechen.
Colonel Robert Malachy saß an seinem Schreibtisch in Fort Meade. Es war ein sonniger Tag, aber er fühlte eine gewisse Schwere in seinen Organen. Es stand nicht zum Besten um den ganzen Betrieb. Er sah zum Bild des Chefs, das neben einer amerikanischen Flagge hinter ihm hing. Seine Finger streichelten das Krokodilleder, mit dem seine Schreibtischgarnitur verkleidet war, und er seufzte. Es klopfte an der Tür. Er befahl, einzutreten, und ein Officer brachte gleich seinen ganzen Körper ins Zimmer. Malachy hatte ihn erwartet, die Fälle aus Deutschland mussten besprochen werden. Der Untergebene trug einen dicken Stapel Akten unter dem Arm und berichtete über die ersten fünf Individuen. Drei davon sollte man weiter verfolgen, zwei fallenlassen, unbedenklich, entschied Malachy. Dan kam die Reihe an seinen Lieblingkandidaten. „Ja, was macht denn unser kleiner Vince“, sagte er, und lehnte sich ein bisschen zurück, in genießender Erwartung der folgenden Einzelheiten. „Nun… wir haben ihn verloren“, sagte der Officer vor ihm. „WAS? Wie konnte denn das passieren?“ Malachy sah in einem Brennglas ihre Mühen des letzten halben Jahres mit diesem Kandidaten. Wie sie immer wieder gerätselt hatten: Was will der Kerl eigentlich? Sie hatten ihn gefunden, weil er willentlich in die Nähe fundamentalistischer Gruppen trat. Offenbar besuchte er Moscheen, ließ sich einen Bart wachsen und führte verworrene, begeisterte Zwiegespräche. Die führte er aber ständig, mit Leuten in der U-Bahn und im Supermarkt, die deutschen Übersetzer waren ganz schön ins Schwitzen geraten. Dann war da dieser Text über seine Vergangenheit, der frei erfunden sein musste, wie sich nach kleinteiliger Recherche herausstellte. Am meisten hatte Malachy verwundert, dass Vincent beharrlich die Berichterstattung über seine Behörde verfolgte, als er anscheindend den Hasspredigern schon den Rücken gekehrt hatte. „Vielleicht interessiert er sich in Wirklichkeit nur für uns“, hatte er damals im Scherz zu einem Vorgesetzten gesagt. Und jetzt war dieser Junge also verschwunden? Der Officer sah noch immer leicht verlegen aus. „Nunja, er ist verreist. Sein Smartphone, seinen Laptop, alles hat er zu Hause gelassen. Er ist jetzt in… Kashmir. Am Fuß des Himalajahs unterwegs.“ „Heiliger Himmel, was will er denn da!? Schafe hüten?“ „Wir wissen es nicht genau. Aber wir haben schon einen unserer Leute nachgeschickt. Serafine Right, sie hat etwa sein Alter, eine unserer Besten. Sie wird schon herausfinden, was der im Schilde führt.“
Das hoffte Malachy sehr. Er musste dem Chef Bericht erstatten, und in schweren Zeiten durfte man nicht versagen. Diesen Vincent, den würde man im Auge behalten.
(2014)