von Prof. Alexander García Düttmann, 2017
Alles malen, alles zeichnen können, sagt sie. Und ich glaube, sofort zu verstehen, was sie meint, wenn ich mich an einen meiner Besuche in der Ecke des Ateliers erinnere, die sie sich angeeignet hatte und die wie ein Atelier im Atelier wirkte. Denn da standen nicht ein paar Leinwände, an denen sie gerade arbeitete, sondern eine schier unübersichtliche Anzahl an Werken, an Skizzen, Zeichnungen und Malereien in allen Formaten und in allen Stilen. Sie hatte eine ganze Wand damit behängt und ich habe sofort an einen Atlas oder an einen Korpus gedacht, an eine riesige mehr oder weniger flache Skulptur oder an eine Mappe, deren unzählige Blätter sich unaufhörlich und unendlich entfalten lassen. Sie gehörten ins Atelier, weil vielleicht nicht alle, aber doch viele noch nicht ganz fertig waren, weiterhin ihrer ungeteilten Aufmerksamkeit bedurften. Es ging also um das Können und es ging um das Ganze. Das Können bezog sich auf das Ganze. Sie wollte alles malen können. Alles, das ist auch die Idee von allem, das Ganze als Idee. Was für ein Können, was für eine Kunst vermag sich auf das Alles zu beziehen, auf das Ganze, die Idee?
Handwerk genügt nicht, sagt sie ebenfalls. Vielleicht hört sie gerade deshalb nicht auf, sich im Zeichnen und Malen zu üben, weil das Ungenügen es ihr nie erlaubt, das erlernte Handwerk einfach beiseite zu legen, sich etwa dem Betrachten, Lesen oder Schreiben zu widmen und darauf zu warten, daß sie ein besserer Mensch geworden ist. Gerade in dem Maße, in dem das Erwerben der handwerklichen Fähigkeit nicht ausreicht, um alles malen zu können, alles auf alle Art oder jedes auf die Art, die ihm eigen ist, muß man die Übung fortsetzen und vertiefen, weiß man erst, was sie bedeutet und wert ist, muß man immer wieder etwas ausprobieren, ist sie gleichsam die Nadel oder die Spitze, die das Bewußstein für das Ungenügen wachhält und schärft. Nichts kommt dem, was genügen könnte, näher als die Übung, die sich auch wieder davon entfernt. Durch die Übung wird ein Künstler der bessere Mensch, von dem sie spricht. Er wird es nicht einfach durch anhaltende Reflexion. Denn während die Reflexion sich über das einzelne erheben und auf das Ganze zielen mag, die Idee, ist der künstlerischen Tätigkeit solche Absicht verwehrt. Sie muß sich einschränken, tut es, indem sie an Essen und Schlaf spart und stets erneut den Heimatschinken von seiner Lüge befreit, ihre Tiroler Heimat malt oder Bilder der Spuren auf den verwitterten Mauern von Jersualem.
Daß sie sich eine Schranke auferlegen muß, darf man freilich nicht damit verwechseln, daß sie sich beugt, ihren übertretenden Eigensinn aufgibt. Sie wird verhaftet, weil sie Graffiti auf öffentliche Flächen gesprüht hat, und sie bringt dem gläubigen und angeblich kunstfremden Anarchisten, der das Bilderverbot achtet, ein Bildnis seiner selbst, nachdem sie wochenlang sich darin geübt hat, Kaftane, Bärte und Schläfenlocken zu zeichnen. Unter dem Neonlicht der heimlichen Stätte, die eine andere heimliche Stätte hinter einem Bücherschrank verbirgt, sieht er sich ihr “schön gemaltes” Bild an. Es ist ein Zeichen der Achtung, der Achtung vor der Achtung. Sie hat es für den strengen Rabbiner gemalt, dessen Ehrfurcht sich nicht hat einschüchtern lassen. Sie hat es für den Ultra gemalt, an seiner Stelle, um es ihm zu erstatten und um es ihm gleichzeitig zu schenken. Oder ist jedes Geschenk eine Erstattung? Handwerkliche Pfuscherei durfte sie sich nicht erlauben. Solange es noch das gibt, was sie natürliche Eigentümer nennt, einzelne, denen Bilder zukommen, einzelne, die, ohne es zu wissen, auf die Substitution und die Restitution warten, die die Aufgabe einer auf alles zielenden Kunst ist, gibt es einen Wink. Und solange es einen Wink gibt, gibt es Trost. Wer alles malen will, für den ist Kunst Trost, ein Trost für alle, ein Trost, den der Künstler immer bloß diesem oder jenem spenden kann. Sie berichtet, der Unbeugsame sei der Polizei mit der Erwiderung begegnet, es käme alles von oben. Ihr Bild entwaffnet folglich die Polizei, die den Trost nicht kennt und für die alles von der Seite kommen muß, als ein Auflauern.
Gewiß, auch die Übung mag dazu führen, daß der Künstler am Ende ans Ganze rührt, alles in allem fühlbar oder sinnfällig macht. Dann hat man es mit der Virtuosität der Ausführung zu tun. Aber die Virtuosität, die widerstandslose Bewegung, täuscht über etwas hinweg, worauf sie die künstlerische Tätigkeit stoßen läßt, die Praxis des Malens und Zeichnens, die ein Üben ist. Man mag den Augenblick verpaßt haben. Unterwegs mag etwas Wesentliches verloren gehen. Zurück in Berlin zeigt sie die Bilder, die sie in Jerusalem hergestellt hat. Sie muß jedoch einsehen, daß die Welt, die sich mit dem Eigennamen verbindet und in der sie entstanden sind, zu weit entfernt ist. Deshalb mag man sich nach ihr sehnen und deshalb mag man gegen die gleichförmige Umspannung der Welt Widerstand leisten. Der Künstler, dem an allem liegt, an der Idee des Ganzen, ist nicht überall, er hält mit seiner Kunst nicht Schritt, es sei denn, seine Kunst kann mit sich selber nicht Schritt halten und alles eben bloß in diesem oder jenem suchen. Von Berlin nach Jerusalem erweist sich die Entfernung als zu groß, ja als unüberwindlich. Alles malen zu können ist kein Virtuosentum, das die Unwiederbringlichkeit und die Unermeßlichkeit leugnet. Die Einschränkung und die Beschränkung, die mit der Übung einhergehen, muß man als Anerkennung der Unwiederbringlichkeit und der Unermeßlichkeit begreifen, als Anerkennung von Inkommensurabilitäten. Was widerfährt dem Ganzen in der Trostlosigkeit zwischen den Winken, den Werken, in einer Trostlosigkeit, die stets eine zeitlich und räumlich bedingte ist, eine geschichtliche?
Den Trost hat sie mindestens zweimal gemalt. Das Gemälde mit dem Titel Trost II zeigt eine Rückenfigur, deren Geschlecht sich nicht ausmachen läßt, auch wenn der Haarschnitt auf eine weibliche Figur hindeuten mag. Sie umarmt eine geschlechtlich ebenso unbestimmte Figur, so sehr man dazu neigen mag, sie als eine männliche Figur zu identifizieren. Beide Figuren unterscheiden sich vor allem durch ihre Körpergröße, während sich die bräunliche Farbe und die lockige Form ihres Haares ähneln. Sie tragen ein dunkles T-Shirt. Die dem Betrachter zugekehrte Figur, die ihren Blick unmittelbar und entschlossen auf ihn richtet, so, daß ihre Mandelaugen weder eine Trübung noch ein Zögern verraten, an dem dünnen Mund sich kein Ausdruck ablesen läßt, hat das T-Shirt mit einem weißen, Falten werfenden Hoodie verdeckt. Auf dem T-Shirt der Rückenfigur entdeckt man einen großen Blutflecken, der aber nicht monochrom ist, sondern aus einem Gewebe zu bestehen scheint, aus Adern, als würde es sich um ein überdimensionales Herz handeln, das schattig durch den Stoff schimmert und pulsiert. Wer tröstet wen?
Man könnte meinen, daß die Figur, die den Betrachter anschaut, die tröstende ist. Sie tröstet mit der Härte und der Objektivität, der Unnachgiebigkeit und der Unbeugsamkeit, der Sachlichkeit und der Geradheit, die dem Trost zukommen, soll er nicht in Sentimentalität abgleiten, in eine veranstaltete Wärme, in der Verzweiflung steckt. Der Betrachter, der durch den auf ihn gerichteten Blick ebenso wie durch den ihm zugewandten Rücken in das Bild hineingezogen wird, um gleichzeitig an ihm abzuprallen und erneut ins Außen verwiesen zu werden, wird vom Tröstenden und vom Getrösteten herausgefordert, vom Trost selber. Herausfordernd ist der Trost, weil alles auf dem Spiel steht. Er muß sich an allem messen, um nicht der Ohnmacht zu verfallen.
von Prof. Alexander García Düttmann, 2017
Alles malen, alles zeichnen können, sagt sie. Und ich glaube, sofort zu verstehen, was sie meint, wenn ich mich an einen meiner Besuche in der Ecke des Ateliers erinnere, die sie sich angeeignet hatte und die wie ein Atelier im Atelier wirkte. Denn da standen nicht ein paar Leinwände, an denen sie gerade arbeitete, sondern eine schier unübersichtliche Anzahl an Werken, an Skizzen, Zeichnungen und Malereien in allen Formaten und in allen Stilen. Sie hatte eine ganze Wand damit behängt und ich habe sofort an einen Atlas oder an einen Korpus gedacht, an eine riesige mehr oder weniger flache Skulptur oder an eine Mappe, deren unzählige Blätter sich unaufhörlich und unendlich entfalten lassen. Sie gehörten ins Atelier, weil vielleicht nicht alle, aber doch viele noch nicht ganz fertig waren, weiterhin ihrer ungeteilten Aufmerksamkeit bedurften. Es ging also um das Können und es ging um das Ganze. Das Können bezog sich auf das Ganze. Sie wollte alles malen können. Alles, das ist auch die Idee von allem, das Ganze als Idee. Was für ein Können, was für eine Kunst vermag sich auf das Alles zu beziehen, auf das Ganze, die Idee?
Handwerk genügt nicht, sagt sie ebenfalls. Vielleicht hört sie gerade deshalb nicht auf, sich im Zeichnen und Malen zu üben, weil das Ungenügen es ihr nie erlaubt, das erlernte Handwerk einfach beiseite zu legen, sich etwa dem Betrachten, Lesen oder Schreiben zu widmen und darauf zu warten, daß sie ein besserer Mensch geworden ist. Gerade in dem Maße, in dem das Erwerben der handwerklichen Fähigkeit nicht ausreicht, um alles malen zu können, alles auf alle Art oder jedes auf die Art, die ihm eigen ist, muß man die Übung fortsetzen und vertiefen, weiß man erst, was sie bedeutet und wert ist, muß man immer wieder etwas ausprobieren, ist sie gleichsam die Nadel oder die Spitze, die das Bewußstein für das Ungenügen wachhält und schärft. Nichts kommt dem, was genügen könnte, näher als die Übung, die sich auch wieder davon entfernt. Durch die Übung wird ein Künstler der bessere Mensch, von dem sie spricht. Er wird es nicht einfach durch anhaltende Reflexion. Denn während die Reflexion sich über das einzelne erheben und auf das Ganze zielen mag, die Idee, ist der künstlerischen Tätigkeit solche Absicht verwehrt. Sie muß sich einschränken, tut es, indem sie an Essen und Schlaf spart und stets erneut den Heimatschinken von seiner Lüge befreit, ihre Tiroler Heimat malt oder Bilder der Spuren auf den verwitterten Mauern von Jersualem.
Daß sie sich eine Schranke auferlegen muß, darf man freilich nicht damit verwechseln, daß sie sich beugt, ihren übertretenden Eigensinn aufgibt. Sie wird verhaftet, weil sie Graffiti auf öffentliche Flächen gesprüht hat, und sie bringt dem gläubigen und angeblich kunstfremden Anarchisten, der das Bilderverbot achtet, ein Bildnis seiner selbst, nachdem sie wochenlang sich darin geübt hat, Kaftane, Bärte und Schläfenlocken zu zeichnen. Unter dem Neonlicht der heimlichen Stätte, die eine andere heimliche Stätte hinter einem Bücherschrank verbirgt, sieht er sich ihr “schön gemaltes” Bild an. Es ist ein Zeichen der Achtung, der Achtung vor der Achtung. Sie hat es für den strengen Rabbiner gemalt, dessen Ehrfurcht sich nicht hat einschüchtern lassen. Sie hat es für den Ultra gemalt, an seiner Stelle, um es ihm zu erstatten und um es ihm gleichzeitig zu schenken. Oder ist jedes Geschenk eine Erstattung? Handwerkliche Pfuscherei durfte sie sich nicht erlauben. Solange es noch das gibt, was sie natürliche Eigentümer nennt, einzelne, denen Bilder zukommen, einzelne, die, ohne es zu wissen, auf die Substitution und die Restitution warten, die die Aufgabe einer auf alles zielenden Kunst ist, gibt es einen Wink. Und solange es einen Wink gibt, gibt es Trost. Wer alles malen will, für den ist Kunst Trost, ein Trost für alle, ein Trost, den der Künstler immer bloß diesem oder jenem spenden kann. Sie berichtet, der Unbeugsame sei der Polizei mit der Erwiderung begegnet, es käme alles von oben. Ihr Bild entwaffnet folglich die Polizei, die den Trost nicht kennt und für die alles von der Seite kommen muß, als ein Auflauern.
Gewiß, auch die Übung mag dazu führen, daß der Künstler am Ende ans Ganze rührt, alles in allem fühlbar oder sinnfällig macht. Dann hat man es mit der Virtuosität der Ausführung zu tun. Aber die Virtuosität, die widerstandslose Bewegung, täuscht über etwas hinweg, worauf sie die künstlerische Tätigkeit stoßen läßt, die Praxis des Malens und Zeichnens, die ein Üben ist. Man mag den Augenblick verpaßt haben. Unterwegs mag etwas Wesentliches verloren gehen. Zurück in Berlin zeigt sie die Bilder, die sie in Jerusalem hergestellt hat. Sie muß jedoch einsehen, daß die Welt, die sich mit dem Eigennamen verbindet und in der sie entstanden sind, zu weit entfernt ist. Deshalb mag man sich nach ihr sehnen und deshalb mag man gegen die gleichförmige Umspannung der Welt Widerstand leisten. Der Künstler, dem an allem liegt, an der Idee des Ganzen, ist nicht überall, er hält mit seiner Kunst nicht Schritt, es sei denn, seine Kunst kann mit sich selber nicht Schritt halten und alles eben bloß in diesem oder jenem suchen. Von Berlin nach Jerusalem erweist sich die Entfernung als zu groß, ja als unüberwindlich. Alles malen zu können ist kein Virtuosentum, das die Unwiederbringlichkeit und die Unermeßlichkeit leugnet. Die Einschränkung und die Beschränkung, die mit der Übung einhergehen, muß man als Anerkennung der Unwiederbringlichkeit und der Unermeßlichkeit begreifen, als Anerkennung von Inkommensurabilitäten. Was widerfährt dem Ganzen in der Trostlosigkeit zwischen den Winken, den Werken, in einer Trostlosigkeit, die stets eine zeitlich und räumlich bedingte ist, eine geschichtliche?
Den Trost hat sie mindestens zweimal gemalt. Das Gemälde mit dem Titel Trost II zeigt eine Rückenfigur, deren Geschlecht sich nicht ausmachen läßt, auch wenn der Haarschnitt auf eine weibliche Figur hindeuten mag. Sie umarmt eine geschlechtlich ebenso unbestimmte Figur, so sehr man dazu neigen mag, sie als eine männliche Figur zu identifizieren. Beide Figuren unterscheiden sich vor allem durch ihre Körpergröße, während sich die bräunliche Farbe und die lockige Form ihres Haares ähneln. Sie tragen ein dunkles T-Shirt. Die dem Betrachter zugekehrte Figur, die ihren Blick unmittelbar und entschlossen auf ihn richtet, so, daß ihre Mandelaugen weder eine Trübung noch ein Zögern verraten, an dem dünnen Mund sich kein Ausdruck ablesen läßt, hat das T-Shirt mit einem weißen, Falten werfenden Hoodie verdeckt. Auf dem T-Shirt der Rückenfigur entdeckt man einen großen Blutflecken, der aber nicht monochrom ist, sondern aus einem Gewebe zu bestehen scheint, aus Adern, als würde es sich um ein überdimensionales Herz handeln, das schattig durch den Stoff schimmert und pulsiert. Wer tröstet wen?
Man könnte meinen, daß die Figur, die den Betrachter anschaut, die tröstende ist. Sie tröstet mit der Härte und der Objektivität, der Unnachgiebigkeit und der Unbeugsamkeit, der Sachlichkeit und der Geradheit, die dem Trost zukommen, soll er nicht in Sentimentalität abgleiten, in eine veranstaltete Wärme, in der Verzweiflung steckt. Der Betrachter, der durch den auf ihn gerichteten Blick ebenso wie durch den ihm zugewandten Rücken in das Bild hineingezogen wird, um gleichzeitig an ihm abzuprallen und erneut ins Außen verwiesen zu werden, wird vom Tröstenden und vom Getrösteten herausgefordert, vom Trost selber. Herausfordernd ist der Trost, weil alles auf dem Spiel steht. Er muß sich an allem messen, um nicht der Ohnmacht zu verfallen.